Aus der Reihe »Der Redakteur erinnert sich« (vom 23. März 2021, nachgereicht)
Im Frühjahr 1981 war ich ein junger Science-Fiction-Fan, der immer öfter seine Geschichten veröffentlichte und ein eigenes Fanzine publizierte. Mit meinem Leben war ich ansonsten nicht sehr zufrieden. Ich hatte eine Lehre als Bürokaufmann begonnen und wieder abgebrochen und jobbte zu dieser Zeit in einem örtlichen Supermarkt.
Dort schob ich Einkaufswagen zusammen, kümmerte mich um das Leergut oder stand an der Tankstelle. Ich sah nicht sonderlich gesellschaftsfähig aus, mein Chef im Supermarkt bezeichnete meine Frisur als »aufgeplatztes Sofakissen«, aber ich glich vieles durch eine »große Schnauze« aus.
Diese brachte mich dazu, mit einem Schriftsteller in Kontakt zu treten, der im Nachbardorf wohnte. Voller Verwunderung hatte ich mitbekommen, dass Wolfgang Altendorf – von dem ich vorher nicht einmal den Namen gekannt hatte – nur fünf Kilometer von dem Dorf entfernt, in dem ich aufgewachsen war, ein Haus besaß. Und von dem Supermarkt, in dem ich arbeitete, war es ebenfalls nicht weit zu Wolfgang Altendorf.
Ein Literat in meiner Nachbarschaft! Ein Mann, der seit Jahrzehnten erfolgreich Bücher veröffentlichte – unfassbar! Ich hatte herausgefunden, dass er phantastische Literatur veröffentlichte, und schrieb Wolfgang Altendorf einfach an.
Ich sei der Verleger einer kleinen Literaturzeitschrift, tat ich kund. Und ob ich mit ihm mal ein Interview führen könne. Ob er vielleicht Lust hätte, mir einen Text zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Allerdings rechnete ich nicht mit einer aussagekräftigen Auskunft.
Was ich bekam, war nicht nur eine Auskunft, sondern gleich eine Einladung. Altendorf, der in diesem Jahr seinen sechzigsten Geburtstag feiern sollte, gab einen »Empfang«, wie er mir in einem freundlichen Brief schrieb, und er würde mich als »jungen literarischen Freund« gern einladen. Dort könnten wir uns sicher unterhalten. Es wäre einfacher gewesen, kurz mit dem Rad ins Nachbardorf zu fahren, und meine Bestätigung einfach in den Briefkasten zu werfen – aber ich hielt es für professioneller, per Brief zu antworten.
Der Empfang war kurze Zeit danach. Ich war gebührend nervös. Schon Tage davor hatte ich mir überlegt, welche Kleidung ich anziehen sollte: Sollte ich eine Krawatte umbinden oder eher leger kommen? Ich entschied mich für »halb zivil«, trug also schon Jeans und Turnschuhe, aber ein halbwegs ordentliches Hemd und kein verwaschenes T-Shirt. So fuhr ich nach Wittlensweiler zu Wolfgang Altendorf, der in einem schönen Bungalow am Hang wohnte.
Ich kannte niemanden. Irmeli Altendorf, die Frau des Schriftstellers, begrüßte mich; sowohl er als auch sie verhielten sich mir gegenüber komplett höflich und siezten mich. 1981 wurden Jugendliche meines Alters von den Erwachsenen meist nur geduzt, die dann erwarteten, von diesen zurückgesiezt zu werden. Die Altendorfs behandelten mich nicht wie einen Schüler, sondern wie einen Gleichberechtigten – das fand ich stark.
Der Abend begann mit einem Stehempfang und einigen kurzen Reden, später saßen alle an einem Tisch und bekamen ein leckeres Abendessen. Es waren etwas mehr als zwei Dutzend Leute anwesend, die meisten deutlich über fünfzig Jahre alt. Immerhin hatten Altendorfs auch Kinder; die Tochter war einige Jahre älter als ich und arbeitete für die Lokalzeitung. So kam ich langsam in Kontakt zu einigen dieser Besucher, und aus manchen dieser Kontakten erwuchsen langjährige weitere Kontakte.
Mit Bärbel Altendorf saß ich später oft bei denselben Terminen: sie für den »Schwarzwälder Boten«, ich für die »Südwest-Presse«. Ich lernte Peter Bänsch kennen, den Leiter unserer Volkshochschule, und seine Frau. Bänsch erzählte mir, dass an der Volkshochschule eine »Literarische Werkstatt« gegründet werde. Ob ich da nicht auch einmal vorbeikommen wolle?
In der Folge kam ich in Verbindung zu anderen Hobbyschriftstellern und hatte 1981 meine erste öffentliche Lesung. Und auf diese Weise wurde die »Südwest Presse« auf mich aufmerksam, für die ich ab 1983 als »Fester Freier« tätig wurde.
Im Verlauf des Abends erfuhr ich viele Geschichten über Wolfgang Altendorf. Der Schriftsteller, der stets ein wenig distanziert und intellektuell wirkte, wenngleich nicht arrogant, erzählte zu später Stunde einige Geschichten; andere erfuhr ich von seiner Frau und seiner Tochter.
Eindrucksvoll fand ich beispielsweise eine Episode aus dem Zweiten Weltkrieg. Als junger Leutnant der Wehrmacht – zum Kriegsende war er 24 Jahre alt – sollte Altendorf in der Pfalz eine Kleinstadt verteidigen, »bis zum letzten Mann«. Die Stadt lag mitten in einem Weinbaugebiet und wäre bei den Kämpfen sicher komplett zerstört worden. Altendorf verstieß gegen eindeutige Befehle, kapitulierte mit seiner Truppe und rettete so die Stadt vor ihrer Vernichtung. Als Dank erhielt er jedes Jahr aus dieser Stadt fünfzig Flaschen mit sehr gutem Riesling.
Spannend fand ich die Informationen über den eigenen Verlag, den er mit seiner Frau direkt nach dem Krieg aufgebaut hatte. Altendorf war Theaterautor, und seine Manuskripte mussten an die verschiedenen Theaterhäuser geschickt werden. Das war häufig Handarbeit, und seine Frau arbeitete mit einem ganzen Team von Leuten zusammen, die dafür sorgen, dass die Manuskripte in Umlauf kamen, während Altendorf selbst schrieb.
Er war über Jahrzehnte hinweg in Publizist im wahrsten Sinne des Wortes. Altendorf veröffentlichte Artikel in renommierten Zeitungen und Zeitschriften, er schrieb Gedichte, Kurzgeschichten und Romane. In den 80er-Jahren kam sogar ein echter Science-Fiction-Roman von ihm bei Heyne heraus.
Als ich ihn 1981 zum ersten Mal traf, bereitete er sich bewusst darauf vor, viele seiner Texte im eigenen Verlag zu veröffentlichen – eine damals sehr mutige Entscheidung. Zusammen mit seiner Frau wollte er sich von den Verlagen und ihrer Programmstruktur befreien. Er wurde also zu einem Selfpublisher – und das Jahrzehnte, bevor dieser Begriff bedeutsam wurde.
An diesem Abend lernte ich nicht nur den ersten Schriftsteller so richtig kennen, sondern erfuhr auch mehr über die literarische Landschaft als in all den Jahren, die ich auf der Schule verbracht hatte. Diese erste Begegnung mit Wolfgang Altendorf erweiterte mein Weltbild.
In den folgenden Jahren trafen wir uns noch öfter. Ich schrieb später als junger Journalist über ihn, ich las Texte von ihm. Als ich 1992 den Schwarzwald verließ und in die Rheinebene hinunterzog, verlor ich den Kontakt. 2007 starb Wolfgang Altendorf, und ich bekam es nur mit, weil mir meine Schwester die Information übermittelte.
Heute wäre der Schriftsteller, Verleger und Künstler schon hundert Jahre alt geworden. Ich werde diesen Tag nutzen, um in den Büchern zu blättern, die ich von ihm besitze, und mir einige Erinnerungen an ihn ins Gedächtnis rufen.
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