Normalerweise laufen die Seminare an der Bundesakademie für kulturelle Bildung, an denen ich teilnehme, am Wochenende ab. In diesem November 2022 war einiges anders: Das Seminar startete am Sonntag, 6. November, und endete am Dienstag, 8. November.
Zusammen mit dem PERRY RHODAN-Autor Uwe Anton sollte ich eine Runde von Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit dem kompliziert klingenden Thema der kontrafaktischen Historie betreuen. Leider fiel Uwe Anton wegen Krankheit aus.
Wir überlegten kurz, das Seminar abzusagen. Weil es aber bereits einmal verschoben worden war – wegen hoher Corona-Zahlen –, entschlossen wir uns, das Seminar doch stattfinden zu lassen. Und während Dr. Olaf Kutzmutz, der Leiter des Bereichs Literatur an der Bundesakademie, sonst eher am Rand an den Seminaren teilnahm, beteiligte er sich dieses Mal viel intensiver.
Im Vorfeld hatte ich einen umfangreichen Reader erhalten, mit Texten aller Autorinnen und Autoren auf Basis einer Textaufgabe im Voraus. Sie sollten eine Welt skizzieren, in der sich etwas grundsätzlich geändert hatte, und aus diesem Thema sollten sie eine Kurzgeschichte entwickeln. Normalerweise geht die kontrafaktische Historie oder die Parallelwelten-Literatur von einem historischen Ereignis aus, das sich anders gestaltet hat als in unserer Welt, und erzählt dann eine daraus abgeleitete Geschichte.
Populär sind deshalb Romane, die beispielsweise eine Welt zeigen, in der die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, oder der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten zugunsten der Konföderierten ausgegangen ist. Es gibt ebenso Romane, in denen es die DDR noch gibt oder Amerika nie von den Europäern kolonisiert worden sind. Doch wie schafft man es, aus einer solch großen Überlegung eine »kleine« Geschichte zu machen?
Wir besprachen im Verlauf der drei Tage alle Texte, die eingereicht worden waren. Dabei stellte sich heraus, dass manche Autorinnen und Autoren genau mit der genannten Frage ihre Probleme hatten. Ihre Ideen waren teilweise stark, die Umsetzung überzeugte uns aber nicht so sehr. Aus diesem Problem leiteten Olaf Kutzmutz und ich dann eine Reihe von Aufgaben ab.
Unter anderem gaben wir die erste Hälfte einer Kürzestgeschichte aus: eine halbe Seite also nur, die an einer Stelle endete, aus der man nicht ablesen konnte, wie sie weiterging. Es ging darum, den Text zu Ende zu bringen. Ich fand die Ergebnisse, die wir hinterher im Plenum besprachen, durchgehend lesenswert. Noch spannender war es eine Stunde später, als alle erfuhren, welches Ende die Geschichte im Original gehabt hatte – daraus leitete sich eine Reihe von Diskussionen ab.
Für eine weitere Geschichte stellte ich ein Szenario in den Raum: Wie würde die Welt von heute aussehen, wenn im Jahr 2000 der Golfstrom abgerissen wäre? Wie hätten sich die Staaten und die Gesellschaften entwickelt, und wie würden wir heute leben? Die entscheidende Frage aber war, wie sich aus einem solchen Thema eine Kurzgeschichte entwickeln ließe.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhielten eine eher kurze Zeit, um sich ihre Geschichte auszudenken. Danach wurden die Texte vorgelesen und im Plenum diskutiert. Die Ergebnisse verblüfften, und es zeigte sich, wie unterschiedlich man an ein komplexes Thema und sein »Vereinfachen« herantreten konnte.
Am Dienstag stellten wir eine letzte Aufgabe, aus der aber keine Geschichte entstehen sollte. Wir diskutierten darüber, wie man aus einem großen Thema überhaupt einen Science-Fiction-Text entwickeln kann. Die Frage: Wie sieht eine Welt aus, in der in den 70er-Jahren das Mondprogramm nicht gestoppt wurde und wir im Jahr 2022 ganz selbstverständlich Stationen der USA, der UdSSR, Chinas und Indiens auf dem Mond haben würden?
Ich stellte die verschiedenen Möglichkeiten dar, wie man von einer solchen Überlegung eine Kurzgeschichte ableiten kann. Möglich sei, so meine Argumentation, mit einer Figur zu beginnen (»Ich habe eine Person, die den Weltraumfahrstuhl reinigen muss«), mit einer Idee (»in einer von innen verriegelten Station liegt ein ermordeter Mensch«) oder mit dem Weltenbau (wie hat sich die Welt seit damals entwickelt, und wie sieht die Weltlage heute aus?). Die darauf folgende Diskussion war spannend und brachte viele interessante Ideen – ein Beleg dafür, wie unterschiedlich man vorgehen kann.
Wir beschäftigten uns also drei Tage lang mit verschiedenen Aspekten, eine Kurzgeschichte auf Basis einer »Was wäre, wenn«-Frage zu schreiben. Wir verfassten Texte, wir diskutierten über theoretische Dinge, und wir entwickelten gemeinsam Ideen.
Dass das Seminar teilweise mit einem Bier, einem Glas Wein oder Mineralwasser in der Hand noch bis lange nach Mitternacht fortgeführt wurde, gehört in einem solchen Fall immer zum Konzept hinzu …
(Dieses Logbuch erschien bereits auf der Internet-Seite der PERRY RHODAN-Serie. Ich wiederhole es an dieser Stelle zur Dokumentation.)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen